Ein Interview mit Ralf A. Huber, Vorstandsmitglied der RMA Risk Management & Rating Association e.V.
Jüngst havarierte das Containerschiff „Ever Given“ im Suezkanal. Die Folge war die mehrtägige Blockade einer der wichtigsten Schiffsverbindungen weltweit. Nun scheint die Krise gebannt, doch die Nachwirkungen mit immensen Kosten für die Kanalgesellschaft und Unternehmen werden noch eine ganze Zeit spürbar sein. An diesem Beispiel zeigt sich erneut die Verwundbarkeit internationaler Lieferketten.
Über den Blick auf eine engmaschige und weltweit agierende Produktions- und Handelswelt, die Vorteile von mehr Nachhaltigkeit sowie eines professionellen Risikomanagements, sprachen wir mit Ralf A. Huber. Das Credo des Vorstandsmitglieds der RMA Risk Management & Rating Association: Agieren statt nur reagieren im Risikomanagement.
Die Blockade des Suezkanals durch ein Frachtschiff im März 2021 zeigte uns wiederholt, dass die Gefahren im Supply-Chain-Umfeld ein Dauerthema für viele Unternehmen sind, auch abseits der Corona-Pandemie. Nicht nur aufgrund der finanziellen Risiken für Produzenten und Zulieferer. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation einer weltweiten Produktions- und Lieferkettenvernetzung?
Ralf A. Huber: Wichtig ist es für Unternehmer zu verstehen, dass es abseits nackter Zahlen vor allem um die immense Verwundbarkeit internationaler Lieferketten geht. Und diese Verwundbarkeit hat in den letzten Jahren zugenommen, sei es durch geopolitische Verwerfungen, Kriege und Handelsblockaden oder aufgrund des Klimawandels und damit zusammenhängender Naturkatastrophen. Damit zeigt sich: Die Blockade durch ein havariertes Containerschiff im Suezkanal ist nur ein mögliches Risiko im internationalen Lieferkettenprozess. Aus einem solchen Vorfall entstehen Risiken in der Supply Chain, für produzierende Unternehmen gleichermaßen wie für den Handel. Hintergrund ist, dass alles mit allem vernetzt ist. In dieser Produktions- und Handelswelt, mit engmaschigen und weltweit verzweigten Produktions-standorten und -wegen sowie Lieferketten, kann sich jeder kleine Zwischenfall zu einer Krise mit enormen Folgen entwickeln. Eine Misere, die durch die weit verbreitete Just-In-Time-Produktion noch befeuert wird. In Summe eine große Bandbreite möglicher Unterbrechungs- und Ausfallrisiken für Lieferketten und damit ganze Branchen.
Wie lassen sich diese Risiken aus Ihrer Sicht minimieren und welchen Kurs sollten Unternehmen einschlagen, um zu mehr Stabilität im Lieferkettenmanagement zu gelangen?
Ralf A. Huber: Im Grunde steht für Unternehmer zunächst die Beantwortung der zentralen Frage im Mittelpunkt: Müssen unsere Zulieferer unbedingt am anderen Ende der Welt sitzen? Was bei Rohstoffen und seltenen Erden oft nicht anders lösbar ist, muss nicht zwingend die Knopf- oder Jeansproduktion in Bangladesch bedeuten. Gleiches gilt beispielsweise auch für Elektronik aus China. Denn es geht hierbei nicht nur um die Störanfälligkeit der Just-In-Time-Produktion aufgrund unterschiedlichster Faktoren, wie oben bereits umrissen. Damit verbunden sind auch mögliche Imageschäden, denn das Thema eines nachhaltigen Wirtschaftens und Handelns gewinnt hierzulande, aber auch in ganz Europa und den USA, zunehmend an Bedeutung. Dies zeigt sich unter anderem an den Investitionen großer Geldgeber, die vermehrt auf nachhaltige Aspekte in der kompletten Lieferkette blicken und dieses Engagement verstärkt fördern und fordern. Nicht zu vergessen sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die Unternehmer zum Umdenken zwingen. An dieser Stelle sei nur auf das Lieferkettengesetz verwiesen, das bereits an die Türen der Unternehmen klopft und von ihnen Einlass fordert, verbunden mit der klaren Agenda: Schütze Mensch und Umwelt in der globalen Wirtschaft. Und wer sich nicht an die Spielregeln eines fairen Produktions- und Lieferantenmanagements hält, der wird als Unternehmen morgen noch stärker sanktioniert als das heute der Fall ist. So die Hoffnung hinter der Gesetzesidee. Ganz abgesehen davon, dass Unternehmen, die sich bereits heute an faire Produktions- und Lieferbedingungen halten, keinen Nachteil erleiden sollten.
Nun laufen nicht wenige Unternehmen dem Thema eines vorausschauenden Supply Chain Managements meistens hinterher. Was braucht es an allgemeinen und speziellen Lösungswegen in diesem Bereich, um vorausschauender zu handeln?
Ralf A. Huber: Nur Reagieren ist in einem komplexen Umfeld, wie dem Supply Chain Management, einfach zu wenig. Es muss vielmehr darum gehen, mögliche Risiken im Logistik- und Lieferkettenumfeld vorausschauend und vor allem frühzeitig zu identifizieren und Gegenmaßnahmen vorzuhalten. Sonst laufen Unternehmen, wie in Ihrer Frage bereits angedeutet, dem Thema immer hinterher und können im Fall der Fälle nur noch zuschauen und Schadensbegrenzung betreiben. Von daher heißt die Devise für Unternehmen und ihr Risikomanagement: Agieren. Konkret bedeutet das, die Supply Chain vor negativen Einflüssen soweit es geht zu schützen – einen sensiblen Bereich, der wie oben bereits beschrieben, jede Menge Angriffsflächen bietet. Das sollten Unternehmen nicht auf die leichte Schulter nehmen, sondern sich professionell mit einem organisationsweiten Supply Chain Risk Management befassen. Wer den Blick als Unternehmer dafür noch nicht geschärft hat, sollte auf externe Unterstützung zurückgreifen. Das gilt übrigens gleichfalls für ein Gesamtrisikomanagement in der kompletten Organisation, denn die Supply Chain ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Bereich im Unternehmen. So setzen wir von der RMA im Rahmen unserer Verbandsarbeit auf eigene Arbeitskreise zu unterschiedlichen Risikomanagementthemen, unter anderen auch zum Supply Chain Risk Management. Das Ziel ist eine ganzheitliche Betrachtung strategischer, operativer und finanzieller Risiken in Lieferketten. Einem wichtigen Prozess, zu dem ich alle interessierten Unternehmen nur herzlich einladen kann, sich das im Rahmen unserer Arbeit einmal genauer anzusehen.
Prozesse und Methoden sind ein Thema, auf das nicht nur im Risikomanagement immer wieder verwiesen wird. Was verbirgt sich abseits der Worthülsen konkret dahinter, mit Blick auf das Supply Chain Risk Management?
Ralf A. Huber: Inhaltlich sprechen wir von geeigneten organisatorischen Prozessen sowie Methoden zur Risikoidentifizierung und -bewertung für das Unternehmen. Hierzu gehört auch die Definition von Messinstrumenten zur Risikoüberwachung und Analyse von Maßnahmen zur Risikosteuerung. Das alles wurde bereits 2015 in einem RMA-Leitfaden zum Supply Chain Risk Management erarbeitet. Dahinter steht ein Gesamtprozess, der von Unternehmen zu Unternehmen ganz unterschiedlich ausfallen kann. Von daher ist es nicht damit getan, eine Risikomanagementsoftware einzukaufen und zu glauben, dass diese Risiken in der Lieferkette per Knopfdruck beheben kann. Nein, in einem solchen Prozess steckt Arbeit und vor allem der Wille des Managements, das Thema komplett über die ganze Organisation durchzuspielen. Das heißt: Die Unternehmensführung muss diesen Gesamtprozess initiieren und überwachen. Dazu braucht es handelndes Personal, sprich ein professionelles Risikomanagement mit Verantwortlichen in den eigenen Unternehmensreihen, die das große Ganze im Blick haben, ohne die Details aus den Augen zu verlieren. Nur so lassen sich Schwachstellen und vermeintlich schwarze Schwäne identifizieren und mit passenden Maßnahmen versehen. Und auch im Rahmen des kommenden Risk Management Congress am 17. und 18. Mai 2021, der als rein digitale Veranstaltung durchgeführt wird, ist das Thema Supply Chain ein wichtiger inhaltlicher Baustein. Nicht nur unter dem Aspekt der aktuellen Corona-Pandemie. Uns geht es um die Verzahnung des Bereichs mit weiteren Disziplinen aus dem Risikomanagement, um von der Risiko- zur Chancensicht zu gelangen.
Ralf A. Huber ist als selbständiger, betriebswirtschaftlicher Berater mit dem Schwerpunkt der 2nd-line-of-defense, insbesondere dem entscheidungsorientierten Risikomanagement, tätig. Er war zuvor als Senior Vice President Corporate Risk & Insurance der LEONI AG in Nürnberg verantwortlich für das alle Gesellschaften der LEONI Gruppe weltweit umfassende Risikomanagement-System, das Interne Kontrollsystem und das Versicherungsmanagement.