Der Klimawandel schreitet schneller und stärker voran als bisher vermutet, so der Klimabericht der Vereinten Nationen. Gleichzeitig werden bis 2050 geschätzt etwa 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten wohnen. Das Thema „Nachhaltige Entwicklung von Städten“ bekommt dadurch in allen Aspekten des urbanen Lebens eine noch größere Bedeutung und Dringlichkeit. Wie intelligent sind unsere Städte? Wie gehen wir mit Energie, Wasser und Lebensmitteln in den Städten der Zukunft um? Welche Möglichkeiten der Mobilität stehen uns zur Verfügung? Was bedeutet intelligentes Datenmanagement für Städte?
An diesen Fragen forschen Expert.innen verschiedener Disziplinen der HFT Stuttgart und stellen ihre Projekte im Rahmen der aktuellen Wissenschaftswoche „Intelligente Stadt“ vor.
Städte so zu konzipieren, dass Menschen gerne dort leben und trotzdem mit Ressourcen nachhaltig umgehen – das ist sicherlich die Herausforderung, vor der Stadtplaner und Architekten aktuell stehen.
Unterstützen kann dabei ein digitales Abbild der Stadt, sozusagen ein digitaler Zwilling. Insbesondere bei der Sanierung von bestehenden Gebäuden und Stadtteilen können mithilfe eines 3D-Modells verschiedene Szenarien durchgespielt werden. Dabei wird nicht nur sichtbar, wie sich der bebaute Raum und die Verkehrs-Infrastruktur entwickelt. Die Szenarien geben auch Auskunft über Feinstaub- und Lärmbelastung, Lenkung von Starkregen, u.v.m..
Zusätzlich ist es möglich, die Bürger.innen an diesen Planungen und Simulationen zu beteiligen Die Integration von Vorschlägen, Visionen und Kritik aus der Bevölkerung stellt einen erheblichen Mehrwert dar und erhöht die Akzeptanz von baulichen Veränderungen in den gewachsenen Stadtgebieten deutlich.
So wurde z.B. in Weilimdorf nicht nur ein 3D-Modell des bestehenden Baubestands erstellt, sondern über eine digitale Beteiligungs-Plattform die Bevölkerung in die Planung eines Sportzentrums einbezogen. Durch Visualisierung der Sachlage konnte eine neue Flächennutzung erarbeitet werden, die auf breite Akzeptanz der Bürger.innen trifft. Diese Lösung kann, so Prof. Dr. Volkers Coors von der HFT Stuttgart, auch problemlos von anderen Kommunen eingesetzt werden.
Voraussetzung für diese Form der Stadtplanung und Bürgerbeteiligung ist der Zugriff auf eine Unmenge qualitativ hochwertiger Daten, die vorrangig mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz bereitgestellt werden. Vorstellbar wäre auch, dass eine Infrastruktur zur Analyse aller verfügbaren Daten von bspw. der EU oder einzelner Staaten bereitgestellt würden, so dass interessierte Bürger.innen diese Daten mit einfachen und eingängigen Tools für ihre eigenen Zwecke auswerten könnten.
Einer der bedeutensten Aspekte der „Intelligenten Stadt“ ist das Thema Verkehrsinfrastruktur. Mobilität in der Zukunft bedeutet „Weiterhin mobil bleiben, bei weniger Verkehr“, so Prof. Dr.-Ing. Lutz Gaspers. Am Beispiel Stuttgart wird deutlich, wie weit wir von dieser Vision noch entfernt sind: aktuell kommen täglich ca. 200.000 Autos in die Stadt, die mit durchschnittlich 1,2 Personen besetzt sind. Die Folge davon sind die bekannten Staus, Parkplatzprobleme, Lärm- und Feinstabbelastungen. Erforderlich sind hier neue Konzepte, die die Mobilität anders, aber bedarfsgerecht organisieren. Bei denen die einzelnen Verkehrsmittel gleiche Chancen eingeräumt und situationsgerecht angeboten werden. Es hilft wenig, wenn man aktuell versucht Menschen aus dem ländlichen Umland dazu zu bewegen, auf das Auto zu verzichten und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in die Städte zu kommen. Die Wegzeiten würden viele vor nicht lösbare Probleme stellen. Werden die Wegeketten unter Mitarbeit der Betroffenen aber so optimiert, dass ein Umstieg vom Auto auf andere Verkehrsmittel zeitliche oder finanzielle Einsparungen ermöglichen, dann ist die Akzeptanz der Bevölkerung gesichert und es findet ein Umdenken statt.
Die Versorgung mit erneuerbaren Energien ist ein weiterer wesentlicher Bestandteil auf dem Weg zu einer klimaneutralen Stadt. Wie kann Energie langfristig verlässlich und zu stabilen Preisen angeboten werden? Es gilt, alle Alternativen der ressourcenschonenden Nutzung von Energie auszuschöpfen. Ob es die Wärme eines Abwasserkanals ist, die für die Beheizung oder auch Kühlung von Wohngebäuden genutzt wird, Photovoltaikanlagen in Kombination mit Block-Heizkraft-Werken, die Abwärme eines Kältelabors zu Heizzwecken: Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, die allerdings intelligent vernetzt werden müssen. Auch hier spielt die Analyse von großen Datenmengen eine wesentliche Rolle. Simulationen zeigen jedoch, dass bei intelligenter Nutzung eine Effizienzsteigerung von 30-40% möglich ist. Im Umkehrschluss heißt das: 30-40% weniger CO2-Ausstoß!
Das Projekt „Keltersiedlung“ in Stuttgart zeigt, wie ein bestehendes Viertel energetisch optimal saniert werden kann – unter Einbindung der Menschen, die dort wohnen. Viele der für ein solches Projekt notwendigen Techniken sind bereits vorhanden. Häufig werden sie aber nicht eingesetzt, weil sie bspw. den jeweiligen Planern oder Architekten nicht bekannt sind. Unter Leitung von Dr. Dirk Pietruschka von der HFT wurde daher mit “SimStadt” eine digitale Entscheidungsmatrix entwickelt, die die komplette Bandbreite der aktuell verfügbaren technologischen Möglichkeiten abdeckt. Diese Lösung kann von Städten, Gemeinden oder Wohnbaugesellschaften eingesetzt werden und ermöglicht ebenfalls die Beteiligung der jeweiligen Bewohner.
Bei allen Disziplinen zeigt sich aber deutlich: ohne die Beteiligung der Bürger.innen können diese Projekte, Konzepte und Ansätze nicht durchgeführt werden! Eine intelligente Stadt ist nachhaltig und lebenswert und schließt alle gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Aspekte ein, sagt Prof. Dr.-Ing. Christina Simon-Phillip von der HFT. Die Menschen auf diesem Weg mitzunehmen ist eine der großen Herausforderungen der transformativen Forschung, denn „eine Stadt ohne Bürgerbeteiligung ist keine Stadt“, so die Professorin.
Die Forschenden sind sich einig: es ist für viele Städte möglich, bis 2035 klimaneutral zu werden. Allerdings fehlt es derzeit an Handwerkern, Material und vor allem politischem Wagemut, sich diesen Herausforderungen zu stellen.
Über die HFT Stuttgart
Die Hochschule für Technik Stuttgart (HFT Stuttgart) ist eine national und international renommierte Hochschule, die Tradition und Innovation seit fast 200 Jahren verbindet. Mit ihren Studienbereichen Architektur und Gestaltung, Bauingenieurwesen, Bauphysik, Informatik, Mathematik, Vermessung und Wirtschaft baut die Hochschule auf eine fundierte Wissenschaft und einen starken Praxisbezug. Gleichzeitig setzt die HFT Stuttgart neue Impulse durch ihre angewandte Forschung und ihre Technologietransfers. Eines dieser Transfervorhaben ist das M4_LAB. Dahinter steht die Metropolregion 4.0 – Innovation und Transfer aus transdisziplinärer Forschung für energieeffiziente Stadtentwicklung, nachhaltiges Wirtschaften und Produzieren in der Metropolregion Stuttgart. Dieses Transfervorhaben wird von der Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“ gefördert.
Kontaktpersonen
Prof. Dr.-Ing. Christina Simon-Philipp, Professorin für Stadtplanung und Städtebau, Leitung Zentrum für Nachhaltige Stadtentwicklung (ZNS), HFT Stuttgart
Prof. Dr. Volker Coors, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Angewandte Forschung (IAF), Informatik und Geoinformatik, HFT Stuttgart
Prof. Dr.-Ing. Lutz Gaspers, Prorektor Studium und Lehre, Leitung Kompetenzzentrum Mobilität und Verkehr (MoVe), HFT Stuttgart
Dr. Dirk Pietruschka, Institutsleitung Zentrum für Nachhaltige Energietechnik (zafh.net), HFT Stuttgart