Die Lieferketten sind weltweit aus den „Fugen geraten“. Wichtige (Vor-) Produkte sind entweder derzeit gar nicht lieferbar oder gelangen nur mit langen Lieferzeiten sowie großen Preisaufschlägen zu ihren Abnehmern. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Chip-Krise, die bei den Automobilherstellern und deren Zulieferern aktuell zu Produktionsunterbrechungen bis hin zu temporären Werksschließungen, Kurzarbeit und massiven Umsatzausfällen führt. Fahrzeuge sind momentan gar nicht, mit sehr langen Lieferzeiten und eingeschränkter Ausstattung lieferbar. Neben den Elektronik-Chips sind von der internationalen Supply-Chain-Krise viele andere Produkte wie zum Beispiel Holz, Papier oder Chemieprodukte betroffen, deren Nicht-Verfügbarkeit wiederum zu Produktionsunterbrechungen bei anderen Produkten führt, wo diese zwingend für die Herstellung benötigt werden. Der Mangel setzt sich so in der Lieferkette bis zum Endprodukt fort.
Die Ursachen für das vielfache Reißen der über Jahrzehnte eingespielten weltweiten Lieferketten sind vielschichtig und die Auswirkungen verstärken sich wiederum gegenseitig. Bei den Lieferanten verursachen pandemiebedingte Schließungen von Fabriken Produktionsausfälle. China als ein wesentlicher Lieferant für viele (Vor-) Produkte fährt eine konsequente Null-Covid-Strategie. Bereits einzelne Infektionsfälle führen zu umgehenden Schließungen von Fabriken und Hafenanlagen über Tage und Wochen. Hinzu kommen in China staatlich angeordnete Fabrikschließungen zur Reduzierung des Energieverbrauchs. Diese massiven Lieferausfälle werden verschärft durch Produktionsunterbrechungen aufgrund von Bränden und Naturkatastrophen, wie zum Beispiel der Kälteeinbruch in Texas im Februar 2021, der zu landesweiten Stromausfällen führte. Für die Weltwirtschaft bedeutende Industrien, wie die Energieversorger und Chiphersteller, waren hiervon betroffen. So musste Samsung seine Chip-Fabrik in Austin wegen einer Unterbrechung der Stromversorgung per Not-Stopp herunterfahren. Die Fabrik stand einen Monat still, Wafer und Chips aus dem aktuellen Produktionsprozess wurden zerstört und es entstand ein Gesamtschaden von rund 300 Millionen Dollar. Der Mangel auf der Angebotsseite führt wiederum zum „Klopapiereffekt“ bei den Einkäufern. Es wird ein Vielfaches der benötigten Mengen bestellt, um auch nur einen Bruchteil der erforderlichen Mengen erhaschen zu können oder Sicherheitspuffer aufzubauen. Viele Unternehmen haben mittlerweile spezielle Teams gebildet, die weltweit die fehlenden Produkte aufspüren und beschaffen.
Doch dann droht schon der nächste Riss in der Lieferkette. Die Waren müssen vom Produzenten zum Abnehmer transportiert werden. Häufig geschieht dies mittels 40-Fuß-Standard-Containern per Frachter über die Weltmeere und Flüsse. Gab es über viele Jahre ein Überangebot an Frachtkapazitäten auf der Welt, sind aktuell Frachtkapazitäten auf Schiffen und Standard-Container für den Transport ein rares, begehrtes und sehr teures Gut geworden. Auch hier ist die Pandemie eine wesentliche Ursache. Hafenschließungen in China nach Infektionsfällen führen immer wieder zu Lieferstaus bei den dringend benötigten Waren. Zudem führt die Pandemie dazu, dass Besatzungen auf den Frachtern nicht planmäßig ausgetauscht werden können. Es kommt zu personalbedingten Verzögerungen und Ausfällen der stark nachgefragten Frachter. Eine sehr hohe Nachfrage nach Frachtkapazitäten trifft auf ein begrenztes Angebot der Reeder, die Charterraten steigen zum Teil um ein Vielfaches. Durch die stark eingeschränkten Flugverbindungen stehen auch nur stark reduzierte Luftfrachtkapazitäten in den Laderäumen der Passagiermaschinen zur Verfügung. Dies führt zu einer Kostenexplosion im Einkauf, die bei den Herstellern in der Lieferkette aufgefangen oder an die Endkunden weitergegeben werden muss. Kleine Unternehmen fehlt es hierbei oftmals an der Marktmacht, um die erhöhten Kosten an die Großkunden weitergeben zu können. Erste Insolvenzen kleinerer Hersteller sind die Folge. Volkswirtschaftlich sind Preiserhöhungen beim Endkunden und damit eine steigende Inflation die Folge. Auch auf den Transportwegen hat neben der Pandemie das Schicksal zugeschlagen. Die Havarie der Ever Given im Suez-Kanal im März 2021 störte den weltweiten Frachtverkehr über Wochen. 40-Fuß-Container für den Warentransport fehlen. Die Container stauen sich in den Häfen und können vor dort nicht weiter transportiert werden, da LKW-Fahrer für den Transport fehlen, werden aber dringend an anderen Stellen der Lieferketten wieder benötigt.
Diese vielschichtigen Störungen in den weltweiten Lieferketten treffen auf eine steigende Nachfrage bei den Verbrauchern. Die Beendigung vieler Pandemiemaßnahmen, der Wegfall von Reisebeschränkungen und staatliche finanzielle Hilfen sowie das anstehende Weihnachtsgeschäft haben die Nachfrage kräftig angekurbelt. Doch so manches neue Fahrrad oder die neue Playstation werden nicht den Weg unter den Weihnachtsbaum finden, denn Experten haben keine rosigen Aussichten für den Welthandel. Die Verwerfungen sollen sich noch mindestens im nächsten Jahr fortsetzen – wenn nicht weitere ungeplante Katastrophen dazwischenkommen.
Viele Unternehmen hat diese verzwickte Liefersituation auf dem falschen Fuß getroffen. Der Einkauf und die Produktion wurden über viele Jahre auf Effizienz getrimmt. Single-Sourcing ermöglicht durch die hohen Stückzahlen im Einkauf Skaleneffekte beim Lieferanten und damit niedrigere Einkaufspreise. Die Lieferanten müssen zudem eine hohe Flexibilität in der Belieferung hinsichtlich Lieferzeiten und -mengen zusichern. „Just-in-time“ und „rollendes Lager“ statt teurer Lagerhaltung. Der Lieferant passt seine Produktion flexibel an die kurzfristigen Kapazitätserfordernisse des Kunden an. Doch wehe, wenn dies, wie in der Chip-Produktion, nicht funktioniert. Denn eine stornierte Bestellung von Computer-Chips kann nicht innerhalb von Stunden oder Tagen nachproduziert werden. Die Fabriken haben nach den pandemiebedingten Stornierungen der Bestellungen von 1-Dollar-Chips durch die Automobilindustrie ihre Fertigung auf Computer-Chips neuerer Technologien für High-End-Geräte umgestellt. Eine Umstellung der Produktion wird wieder viele Monate in Anspruch nehmen. Der hierdurch ausgelöste „Chip-Crunch“ bei den einfachen 1-Dollar-Chips führt nun zu geschätzten Ausfällen von 60 Milliarden Dollar in der Automobilindustrie. Ein Ende dieses „Chip-Crunch“ ist nicht absehbar. Fahrzeuge werden mit eingeschränkter Ausstattung wie zum Beispiel mechanischen statt elektronischen Schlüsseln ausgeliefert und die Lieferzeiten für Neu-Fahrzeuge werden ständig länger. Dies wiederum führt zu einer Verknappung des Angebots auf dem Gebrauchtwagenmarkt. Auch die Autovermieter haben massiv die Preise erhöht, da ihnen neue Fahrzeuge für die Vermietung fehlen.
Die aktuell sichtbaren weltweiten Störungen der Lieferketten zeigen, dass ein über lange Zeit auf Effizienz getrimmtes System im Normalbetrieb Höchstleistungen erbringen kann. Bei Störungen kippt dieses System jedoch sehr leicht und ist nur schwer wieder in die Balance zu bringen. Neben dem Effizienz-Ziel sollten Unternehmen daher auch die Widerstandsfähigkeit gegenüber Störungen in ihr Zielmodell mit aufnehmen. Diese Widerstandsfähigkeit, auch „Organisatorische Resilienz“ bezeichnet, hilft Unternehmen Störungen frühzeitig zu erkennen, den Eintritt zu verhindern sowie die Auswirkungen zu mindern. Dies wird erreicht, indem die kritischen Wertschöpfungsketten im Unternehmen identifiziert und analysiert werden. Wo sind die „Single Points of Failure“ in der Produktion, Logistik und Administration? Welche Gefährdungen können diese Schwachstellen zu einem Risiko für das gesamte Unternehmen werden lassen und mit welchen Maßnahmen können diese Risiken reduziert werden? Oftmals sind es schon einfache Maßnahmen, die zu einer höheren Ausfallsicherheit führen können. Das zweite redundante Steuergerät, die Identifikation von Ersatz-Lieferanten für ein kritisches Produkt, die physische Absicherung von Produktionsanlagen gegen Wasser, Sturm, Stromausfall etc..
Die Disziplin „Supply-Chain-Resilience“ fokussiert sich auf diese Widerstandsfähigkeit der gesamten Lieferkette. Im ersten Schritt gilt es, die gesamte Lieferkette zunächst einmal zu kennen. Welches sind die kritischen direkten Lieferanten für das Unternehmen (Tier-1 Lieferanten)? Auf welche Zulieferungen von anderen Lieferanten sind die Tier-1 Lieferanten angewiesen (Tier-n—Lieferanten)? Welche Transportwege und -mittel sind für die Lieferkette erforderlich?
In einem zweiten Schritt können auch für die Lieferkette Single-Point-of-Failures, Gefährdungen und Risiken identifiziert werden. Die Risiken werden priorisiert und Maßnahmen zur Vermeidung, Verringerung oder Übertragung dieser Risiken ermittelt. Häufig sind hier strategische Entscheidungen zu treffen, da bestehende Strategien in Frage gestellt werden und Investitionen sowie höhere laufende Kosten akzeptiert werden müssen, um eine größere Widerstandskraft zu erreichen. Multi-Sourcing, eine Lagerhaltung für kritische Vorprodukte, alternative Transportwege für kritische Produkte bedeuten immer einen zum Teil hohen Invest, der sich aber in einer Krise auszahlt. Diese Abwägung ist im Einzelnen durch die Unternehmensleitung zu treffen. Nach der Lieferkettenunterbrechung ist vor der Lieferkettenunterbrechung. So manches Unternehmen wird aktuell diese Abwägungen zwischen Effizienz und Resilienz neu überdenken.
Den zweiten Teil des Beitrags beschäftigt sich mit Möglichkeiten zur Erhöhung der Resilienz von Lieferketten:
Supply Chain Resilience Management – Vorsorge für den Bruch der Lieferketten (Teil 2)
Matthias Hämmerle MBCI, Geschäftsführer von haemmerle-consulting, ist ein erfahrerener und anerkannter Experte für Business Continuity und Informationssicherheitsmanagement. Seine Erfahrungen sammelte der studierte Wirtschaftswissenschaftler sowohl im Finanzsektor als auch bei Unternehmensberatungen und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Er ist Lead Auditor ISO 22301, als Dozent für den Themenberiche BCM an der Frankfurt School of Finance & Management tätig und Herausgeber der BCM-News, dem führenden deutschsprachigen Informationsportal für BCM.