Von Business-Continuity- und Krisenmodus über Nachhaltigkeit (ESG) zu Resilienz und Antifragilität im Gesundheitswesen – mithilfe neuer systemischer Ansätze und künstlicher Intelligenz
Der im Journal für Medizin- und Gesundheitsrecht erschienene Beitrag von Prof. Dr. Josef Scherer, Dr. Markus Keilen und Justus Zach zeigt auf, welchen Weg Einrichtungen des Gesundheitswesen gehen müssen, um zukünftig am Markt bestehen zu können.
Die gesetzlichen Anforderungen an Organisationen, die im Sozial- und Gesundheitswesen tätig sind, nehmen ständig zu. Die jüngsten Entwicklungen betreffen die Berichterstattung im Bereich der Nachhaltigkeit. Gemäß des Entwurfs der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) müssen ab 01.01.2024 große Kapitalgesellschaften und haftungsbeschränkte Personengesellschaften mit mehr als 250 Mitarbeitern, 20 Mio. € Bilanzsumme oder 40 Mio. € Umsatz (zwei dieser drei Voraussetzungen reichen) für das Geschäftsjahr 2023 über ökonomische, soziale und ökologische Nachhaltigkeit berichten. Zu diesem Zweck werden noch im Laufe der nächsten Monate Standards verabschiedet, die von den betroffenen Organisationen verbindlich einzuhalten sind.
Um diese geänderten Anforderungen zu erfüllen, benötigen auch Unternehmen im Gesundheitswesen eine Organisationsform, die rechtssichere, nachhaltige Unternehmensführung und –überwachung ermöglicht und dabei auch die gesamte relevante Nachhaltigkeits-Compliance umfasst.
Die wesentlichen Pfeiler für das notwendige Nachhaltigkeits- und Resilienz-Managementsystem sind Compliancemanagement und Risikomanagement.
Dabei bezeichnet man mit Resilienz die Möglichkeit von Organisationen auf Problemsituationen, wie bspw. ein unerwarteter Konjunkturabschwung oder geänderte Rahmenbedingungen, widerstandsfähig zu reagieren und ggf. unter Anpassung von Strukturen und Prozessen ohne große Einbußen weiter zu existieren. Der Begriff der Antifragilität geht sogar noch einen Schritt weiter, denn hierunter versteht man durch „Anstrengungen beim Meistern großer Herausforderungen“ sogar noch stärker als bisher zu werden.
Auch im Gesundheitswesen werden mit Compliance die zwingenden Pflichten in Bezug auf Governance (Unternehmensführung), Technik, Nachhaltigkeit, Stakeholder, Arbeitsbedingungen, Lieferketten, Daten und Informationen, etc. identifiziert und gesteuert. Das Risikomanagement hingegen identifiziert, bewertet und steuert Gefahren und Chancen, die die Erreichung von strategischen und operativen Zielen der Organisation beeinflussen.
Um in der heutigen Zeit am Markt zu bestehen ist jedoch eine Weiterentwicklung notwendig, die vom Business Continuity Management über das Risiko– und Compliancemanagement sowie das Nachhaltigkeitsmanagement hin zu einer „Resility“ der Organisation führt, die Resilienz, Antifragilität und Chancenmanagement verbindet:
Im Idealfall ist die Organisation so flexibel und resilient, dass sie neue Krisen und Anforderungen in ihre agile, vernetzte Struktur integriert und unbeschadet und sogar gestärkt überlebt.
Welche Methoden und Techniken unterstützen bei der Umformung zu einer resilienten Organisation?
Es gibt mehrere Techniken und Methoden, eine Organisation zu einer resilienten Organisation umzuformen. Dazu gehören:
- Artificial Intelligence
- Konzept der „lernenden Organisation“
- Diversity bei angepassten Geschäftsmodellen und Leistungen
- Szenarioanalysen
- echte Risiko-Kompetenz, -Awareness, -Kultur
- Stresstests
- Ableitung der strategischen Top-Ziele über den „Risikobasierten Ansatz“ mit Risiko & Chancen Assessments sowie Simulations-Technologien
Dabei ist zu berücksichtigen, dass es keinesfalls zu bürokratischen Monstern kommen darf, die die Mitarbeiter nur zusätzlich belasten, aber keinen oder nur einen geringen Mehrwert erzielen. Um ein wirksames Resility-Managementsystem sicherzustellen, ist daher größter Wert auf eine frühzeitige und umfängliche, faktenbasierte und von kognitivem Versagen befreite, ehrliche (!), fachmännische Risiko- und Chancen-Identifikation nach Stand der Technik zu legen. Dazu bedarf es eines offenen Umgangs mit Fehlern und der Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen. Dies in der Unternehmenskultur zu verankern, ist Aufgabe der Klinikleitung/Geschäftsführung und muss von ihr vorgelebt werden.
Hinzu kommt, dass der rechtliche Rahmen immer komplexer wird. Zur Auslegung von eher unbestimmten Rechtsbegriffen wie „sicher“, „gewissenhaft“, „angemessen“, „wirksam“, etc. greift die Rechtsprechung häufig auf etablierte Standards zurück. Management und Mitarbeiter müssen in einer immer komplexeren Welt auch diese neuen Anforderungen erfüllen. Dies gelingt mit führenden Workflows, Automation, digitalen Prozesszwillingen und Kultur, Awareness und Kompetenz (Wissen, Verstehen, Können und Wollen) sowie einem wirksamen „Lines of defense“-Steuerungs- und Überwachungssystem. Um sicherzustellen, dass die benötigten Informationen vorliegen, eignet sich ein Digital Decision Management-Tool, das den Entscheidungsprozess mit (semi-) künstlicher Intelligenz unterstützt und zur gleichen Zeit getroffene Interpretationen und Definitionen von „unbestimmten Rechtsbegriffen“ revisionssicher dokumentiert. Weitere Voraussetzungen für „Resility“ sind angemessene zeitliche, finanzielle, logistische und personelle Ressourcen. Dabei spielen künftig die IT, die optimierte Nutzung von Daten sowie die Kompetenz des Personals eine entscheidende Rolle.
Wie geht es weiter?
Die Krankenhauslandschaft hat sich in den letzten 20 Jahren gravierend verändert. Seit 20 Jahren stehen die Einrichtungen im Wettbewerb miteinander, die Einführung der Fallpauschalen hat zu einer Ökonomisierung im Gesundheitswesen geführt, die Fehlbarkeit der Mediziner wurde zum Kulturthema und führte zur Einführung von Checklisten, SOPs (standing operating procedures) und „planbaren“ Leistungen. Wirtschaftspläne, OP-Abläufe, Prozeduren Codes und Plausibilitätsprüfungen durch den Medizinischen Dienst verstärken die Angleichung an Abläufe in industriellen Produktionsbetrieben.
Zudem ist die Anzahl der Krankenhäuser seit 1992 um 400 Einrichtungen bis 2018 gesunken. Gleichzeitig sind immer mehr Kliniken in der Hand von privaten Trägern. Durch die Ausrichtung auf marktwirtschaftliche Prinzipien erzielen die privaten Träger messbare Qualität zu wirtschaftlichen Ergebnissen. Will eine Klinik mittlerweile am Markt bestehen, so muss die Leitung sich fragen, welchen Auftrag die Klinik hat, in welches System der Grund- und Regelversorgung sie eingebunden ist, ob eine Spezialisierung auf bestimmte Eingriffe und Behandlungsmethoden sinnvoll ist oder Synergien in einem Verbund der Leistungserbringung erzielt werden können.
Die Autoren nennen drei Säulen, die für eine „gesunde“ Organisation notwendig sind:
- Die klare Analyse der möglichen Geschäftsfelder an einem Standort – auch in Verbindung mit Kooperationen.
- Die Analyse der Kernleistung und ein optimierter Ressourceneinsatz. Optimierung der Leistung durch: Make or Buy-Analysen: Diese Frage führte zu einer großen Welle an Outsourcing: Wäscherei, Küche, Reinigung, Einkauf aber auch IT oder Teile der medizinischen Versorgung: Physiotherapie, Logopädie, etc. Outsourcing hatte neben den direkten Effekten auch gewünschte sekundäre Effekte: Personalkostenoptimierung, aber auch die Kosten für Ausfälle oder Akquise liegen außerhalb der Kliniken.
- Zusammenführung in zentraler Steuerung in definierten Prozessen und Verantwortlichkeiten. Die Notwendigkeit der Definition von Spielregeln ist eine Chance, um als Handlungsanweisungen in den Prozessen Compliance und Zuverlässigkeit der Leistung zu ermöglichen. Erfolge dieses Vorgehens sind auf allen Ebenen in Kennzahlen messbar: Die medizinische Qualität, wirtschaftliche Erfolge, Beurteilung von Lieferungen und Leistungen der Geschäftspartner, Personalfluktuation und Krankheitsquote als Hinweis für Führung und Mitarbeiterzufriedenheit ebenso, wie die Anzahl von Anzeigen und Rechtsverstößen bei Verletzungen von Compliance-Regeln.
Bei einer weiter wachsenden Nachfrage nach Leistungen der Gesundheitsversorgung und steigenden kostenintensiven Behandlungsmöglichkeiten führt an der Digitalisierung der Leistungserbringung in Einrichtungen des Gesundheitswesens kein Weg vorbei. Wie diese Entwicklungen mit der Handhabung sensibler Gesundheitsdaten und den Vorgaben des Datenschutzrechts in Einklang zu bringen sind, bleibt abzuwarten. Wesentlich für den Erfolg dürfte es sein, die Bevölkerung, Mitarbeiter und weitere Stakeholder über eine zielgruppengerechte Kommunikation mitzunehmen und damit den anstehenden Veränderungsprozessen hin zu einer Verbesserung der Qualität durch Früherkennung, Prävention und Verantwortung den Weg zu bereiten.
Eine weitere Marktbereinigung ist unumgänglich. Gewinnen werden die Unternehmen, die bereit sind, sich disruptiven Entwicklungen konstruktiv zu stellen und die sich bietenden neuen Chancen frühzeitig zu erkennen. Resiliente Unternehmen wissen die Megatrends Globalisierung, Vernetzung, Digitalisierung, Spezialisierung und Versorgungsklärung als Lösung für die Probleme der Verknappung von Fachkräften, finanzieller Möglichkeiten, steigender Bedarfe durch demographische Entwicklungen, etc. für sich zu nutzen. Dabei werden Einrichtungen, die über eine resiliente, nachhaltige und antifragile Organisation verfügen im Vorteil sein.
Der ausführliche Beitrag steht hier zum Download für Sie bereit:
https://www.govsol.de/files/fil/jmg-4-schererkeilenzach.pdf