Aktuelle Herausforderungen an die Krisenstabsarbeit
Die aktuelle Covid 19-Pandemie hat viele Unternehmen in einen Krisenmodus versetzt. Krisenstäbe, die oftmals nur zu Krisenstabsübungen einmal jährlich zusammenkommen, tagen aktuell regelmäßig und über einen langen Zeitraum. Dadurch entstehen ganz neue Herausforderungen an die Organisation der Krisenstabsarbeit als in einer zweistündige Übung. Dies gilt sowohl für die Technik, Organisation und auch die Zusammenarbeit der Mitglieder von Krisen- und Unterstützungsstäben.
Für die Arbeit von Krisenstäben werden in Unternehmen klassischerweise Krisenstabsräume vorgehalten. Häufig handelt es sich hierbei um Besprechungsräume, die für die Arbeit des Krisenstabs mit Flipcharts, Whiteboards, Moderationsmaterialien, Telefon- und Videokonferenztechniken, Beamer, TV etc. ausgestattet sind. Weitere Sonderausstattungen für den Not- und Krisenfall wie Mobiltelefone, Ladegeräte, Kabel etc. werden in verschlossenen “Battle Boxes” für den Einsatzfall vorgehalten. Tritt eine Störung oder eine Notfall ein, die sogenannte “Lage”, treffen sich die Mitglieder des Krisenstabs nach der erfolgten Alarmierung in diesen vorbereiteten Krisenstabsräumen, um die Situation zu analysieren und im Folgenden bei einem Notfall oder einer Krise gemeinsam im Team die Lage zu bewältigen. In diesen, im amerikanischen auch “Command Centre” genannten, Räumlichkeiten wird die Lage an der Wand für alle Teilnehmer sichtbar in einem Lagebild grafisch visualisiert und regelmäßig aktualisiert. Der Unterstützungs-Stab, häufig in Nebenräumen untergebracht, sorgt für den Informations- und Kommunikationsfluss, für die Protokollierung und Dokumentation sowie die Auftrags- und Maßnahmenverfolgung. Die Sicherstellung der Versorgung und auch Botendienste gehören zu den Unterstützungstätigkeiten.
Diese “klassische Organisation” der Krisenstabsarbeit hat sich bewährt, wenn die Teilnehmer alle oder zumindest überwiegend vor Ort sind und sich in den Krisenstabsräumen treffen können.
Spätestens die Covid-19-Pandemie mit den Anforderungen an physische Distanzierung hat gezeigt, dass diese klassische Arbeitsweise der auch engen körperlichen Zusammenarbeit an ihre Grenzen stößt. Die Krisenstabsarbeit wurde daher von vielen Unternehmen in Form von Web-Konferenzen durchgeführt.
Doch Web-Konferenzen alleine können die Krisenstabsarbeit mit der Lagevisualisierung, den Führungs- und Entscheidungsprozessen sowie der Auftrags- und Maßnahmenverfolgung nur unzureichend abbilden.
Ziel müssen daher abgestimmte Lösungen sein, die eine vollständige Digitalisierung und Virtualisierung der Krisenstabsarbeit ermöglichen. Denn auch in Zukunft wird die physische Präsenz der Mitglieder eines Krisenstabs, gerade auch über lange Zeiträume, immer weniger sicherzustellen sein. Nachfolgend werden beispielhaft Tools zur Unterstützung der Krisenstabsarbeit aufgeführt. Dies stellt keine Bewertung der Tools dar, sondern soll dem Leser nur einen Einstieg in die Toolauswahl ermöglichen. In der Marktübersicht BCM-Tools der BCM-News finden Sie weitere Anbieter von Alarmierungs-, BCM- und Krisenmanagementlösungen.
Lösungsansätze für eine Digitalisierung und Virtualisierung der Krisenstabsarbeit
Virtuelle Krisenstabsarbeit bedeutet, dass Krisenstabsmitglieder räumlich getrennt voneinander mittels IT-Lösungen auf ein gemeinsames Lagebild zugreifen können und die Führungs- und Entscheidungsprozesse softwaregestützt, also digital, durchgeführt werden.
Dies erfordert einen Paradigmenwechsel gegenüber der klassischen Krisenstabsarbeit “face-to-face” und eine gut überlegte Konzeption der IT-Unterstützung. Eine umfangreiche Einarbeitung und Übungen aller beteiligten Personen mit den eingesetzten Werkzeugen ist eine zwingende Voraussetzung für die schnelle Einsatzbereitschaft im Notfall. Die Bewältigung der “Lage” muss im Mittelpunkt stehen, nicht der Umgang mit einem Tool!
Es geht hierbei nicht um ein “entweder … oder” zwischen der klassischen Präsenz und der räumlich getrennten Kollaboration, sondern um das Schaffen von möglichst mehreren Rückfallebenen. Auch professionelle Krisenstäbe haben immer noch Whiteboards an den Wänden und Durchschreibeformulare zur Hand, falls die Technik versagt. Zur Not muss Krisenmanagement in einem Hotelzimmer funktionieren.
Am Anfang einer Lösungssuche muss hierbei immer ein Anforderungskatalog stehen: Welche Funktionen sollen wie digital abgebildet werden?
Für das Business Continuity- und Krisenmanagement bietet sich eine Orientierung an den einzelnen Phasen der Bewältigung der Lage an:
- Alarmierung von CAll-Trees sowie qualifizierte Rückmeldungen der alarmierten Personen
- Kommunikation (Sprache und Video)
- Speicherung und Austausch von Daten
- Lagefeststellung und Lagebild
- Stabsarbeit zur Lagebewältigung mit dem Führungs- und Entscheidungsprozess sowie Maßnahmenverfolgung
- Protokollierung, Dokumentation und Lagenachbereitung
Alarmierung
Die Alarmierung stellt den ersten entscheidenden Schritt zur Lageerkennung und Alarmierung der relevanten Personen dar. Viele Unternehmen haben diesen Schritt bereits mit Hilfe von Alarmierungssystemen digitalisiert und automatisiert. Die manuelle Abarbeitung von Call-Trees abhängig vom eingetretenen Szenario sowie die Nachverfolgung der Quittierungen der Anrufe benötigt viel Zeit, die gerade zu Beginn der Störung besonders wertvoll ist. Für die Alarmierung stehen am Markt bewährte und leistungsfähige Softwarelösungen zur Verfügung, wie zum Beispiel Fact24, Evernote oder Serinus.
Viele Alarmierungssysteme gehen mittlerweile weit über die reine Alarmierung hinaus und integrieren zum Beispiel ad-hoc-Telefonkonferenzen sowie ein Aufgaben- und Dokumentenmanagement.
Sprach- und Video-Kommunikation
Telefon- und Videokonferenzen sind wesentlichen Plattformen für die Interaktion zwischen den Mitgliedern des Krisen- und des Unterstützungsstabs. Waren Videokonferenzen früher auf Räume begrenzt, in denen die Video- und Übertragungstechnik installiert war, ist es heute nahezu mit jedem Endgerät möglich, an Telefon- und Videokonferenzen teilzunehmen, soweit eine ausreichende Netz-Verbindung vorhanden ist. Die Web-basierten Lösungen haben zudem den Vorteil, im Notfall unabhängig von der Verfügbarkeit der IT- und Telekommunikation des Unternehmens zu sein. Ein positiver Effekt der Covid-19-Pandemie ist die mittlerweile weite Verbreitung und Akzeptanz dieses Mediums.
Speicherung und Austausch von Daten
In Krisen entstehen zahlreiche Informationen, die gespeichert und geteilt werden müssen.
Auch für die Speicherung und den Austausch von Daten sollten Lösungen gewählt werden, die unabhängig von der Unternehmens-IT funktionieren. Informationssicherheit und Datenschutz sind auch im Notfall K.O.-Kriterien für eine solche Lösung. In Frage kommen daher zum Beispiel sichere Datenräume. Da deren Berechtigungskonzepte mitunter komplex sind und der Umgang geübt sein muss, ist auch hier der Einsatz der gewählten Lösung bereits in “Friedenszeiten” zu empfehlen. Templates und Dokumentationsvorlagen sowie Notfall-Handbücher sollten dort bereits abgelegt – und regelmäßig gepflegt – sein, damit sie im Notfall schnell verfügbar sind. Beispielhaft kann hierfür der sichere Datenraum von dracoon genannt werden. Eine kostenfreie Version dieses Datenraums bietet bereits ausreichend Kapazitäten für das Krisenmanagement.
Lagefeststellung und Lagebild
Bei der Lagefeststellung- und beobachtung geht es darum, eingehende Informationen zu erhalten, zu sichten und zu bewerten sowie Informationen zur Lage, Aufträgen und Maßnahmen einzuholen. Dies ist die klassische Funktion einer Stabsunterstützungsfunktion für den Krisenstab. Einige Alarmierungssysteme übernehmen auch diese Aufgaben bereits mit. Auf der anderen Seite spielt spezielle Stabssoftware genau an diesem Punkt seine Stärken aus und integriert diese Informationen in den nachfolgenden Führungs- und Entscheidungsprozess. Hier gilt es die Entscheidung zu treffen, welche Funktionalitäten des Alarmierungssystems genutzt werden, und wofür wiederum andere Softwarewerkzeuge eingesetzt werden.
Stabsarbeit
Die gemeinsame Arbeit an Flipcharts, Metaplan- und Whiteboardwänden elektronisch abzubilden ist sicherlich nicht nur eine Herausforderung an die Softwarelösung, sondern bedingt auch eine grundsätzliche Änderung der Arbeitsweise.
In der speziellen Unterstützung dieser Stabsarbeit liegen die Stärken von webbasierten Softwarelösungen für das Krisenmanagement wie beispielsweise CENARIO ilias oder DEMiOS.
Sie bilden den Führungs- und Entscheidungsprozess elektronisch ab und dokumentieren die Informationen zugleich revisionssicher.
Die Einführung stellt nicht nur einen finanziellen Invest dar, sondern erfordert auch Trainings im Umgang mit der Softwarelösung und der damit verbundenen Methodik.
Offenere Lösungen, die eine gemeinsame Moderation, Dokumentation und Lagebilddarstellung erlauben, finden sich bei cloudbasierten Moderationslösungen wie zum Beispiel dem in Deutschland entwickelten und gehosteten Conceptboard. Ist eine solche Lösung zum Beispiel für die Softwareentwicklung mittels SCRUM bereits im Einsatz, kann diese auch für die Krisenstabsarbeit eingesetzt werden. Allerdings fehlt den offenen Lösungen die methodische Unterstützung einer speziellen Krisenstabssoftware.
Protokollierung, Dokumentation und Lagenachbereitung
Protokollierung und Dokumentation kann in der Krisenstabsarbeit leicht vergessen werden und auf der anderen Seite wichtige Kapazitäten binden. Softwaregestützte Lösungen haben den Vorteil, dass die revisionssichere Protokollierung der Aktivitäten bereits durch das Tool erfolgt und hierdurch viel manuelle und fehlerbehaftete Dokumentation ersparen kann.
Der Dokumentationsaufwand verringert sich, die Nachvollziehbarkeit der Ereignisse im elektronischen Logbuch wird erleichtert und damit auch die Auswertungen für das Lesson learned nach der bewältigten Krise.
Zusammenfassung
Lösungen, die nur für den Not- und Krisenfall vorgehalten werden, sind im Einsatzfall oftmals keine Unterstützung, sondern gar ein Hindernis. Die Mitarbeiter sind im Handling der Softwarelösung nicht ausreichend geübt, die Software und / oder Daten sind nicht mehr aktuell.
Es ist daher ideal, wenn die ausgewählten Lösungen auch im Normalbetrieb eingesetzt werden. Damit entfällt die Einarbeitungszeit und alle Mitarbeiter sind im Umgang geübt.
So können Alarmierungssysteme im IT- oder Facility-Störungsmanagement eingesetzt werden. Telefon- und Videokonferenzlösungen haben sich seit der Covid-19-Pandemie im „new-normal“ etabliert und die hierdurch veränderte Kommunikation und Technik ist eingeübt. Dies gilt es aufrecht zu erhalten, wenn aus “new-normal” wieder “normal” geworden ist. Spezielle Krisenmanagementlösungen spielen ihre Stärken in der methodischen Unterstützung aus, erfordern aber Einarbeitung und ständiges Training.
ÜBER DEN AUTOR
Matthias Hämmerle MBCI, Geschäftsführer von haemmerle-consulting, ist ein erfahrerener und anerkannter Experte für Business Continuity und Informationssicherheitsmanagement. Seine Erfahrungen sammelte der studierte Wirtschaftswissenschaftler sowohl im Finanzsektor als auch bei Unternehmensberatungen und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Er ist Lead Auditor ISO 22301, als Dozent für den Themenberiche BCM an der Frankfurt School of Finance & Management tätig und Herausgeber der BCM-News, dem führenden deutschsprachigen Informationsportal für BCM.