Die aktuelle COVID-19-Pandemie wird viele Unternehmen darüber nachdenken lassen, ihre vorhandenen Pandemieplanungen zu überprüfen oder auch erst neue Pandemiepläne zu erstellen. Doch welche Inhalte gehören in einen Pandemieplan, wann wird er ausgelöst und welche Inhalte sind in anderen Notfallplänen zu regeln? Bis zur aktuellen COVID-19-Pandemie waren Pandemiepläne eher theoretische Konstrukte, die nicht getestet wurden und den Ernstfall nie wirklich erlebten. Die H1N1-Pandemie (“Schweinegrippe”) 2009 war kein echter Test der Pandemieplanungen, da der Verlauf der Pandemie nicht den Erwartungen an eine Pandemie mit vielen schweren Infektionen und einer sehr hohen Zahl an Todesopfern entsprach. Bestehende Vorsorgemaßnahmen wurden daraufhin zurückgefahren, das eingelagerte Grippemittel Tamiflu teuer entsorgt und die Pandemiepläne staubten vor sich hin. Dies gilt nicht nur für die Vorsorge von Unternehmen, sondern auch für die staatlichen Pandemievorsorgemaßnahmen, wie wir leider lernen mussten.
Die Realität hat uns mittlerweile eingeholt und die COVID-19-Pandemie hält uns im Bann – zumindest bis ein wirksamer Impfstoff in ausreichender Menge verfügbar ist. Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, wie eine wirksame Pandemieplanung aussehen muss, was sie leisten kann und wo die Grenzen sind.
Pandemie ist nicht gleich Pandemie
Am 11. Juni 2009 hat die WHO für die H1N1 oder auch “Schweinegrippe” die damals höchste Pandemiestufe 6 ausgerufen.
Die sogenannte Schweinegrippe-Pandemie nahm einen relativ milden Verlauf im Vergleich zu den Pandemien des letzten Jahrhunderts, gemessen an den Todesfällen. Wie sich erste viel später herausstellte, lag dies dran, dass es bei der älteren Bevölkerung eine Kreuz-Immunität gegen dieses Virus gab. Gerade ältere Menschen sind jedoch die Haupt-Risikogruppe und stellen normalerweise den höchsten Anteil der Todesfälle dar. Menschen entwickeln aus noch unbekannten Gründen eine Immunität gegen das Influenza-Virus, mit dem sie sich das erste Mal im Leben infizieren. Das H1N1-Virus 2009 hatte eine hohe Ähnlichkeit mit dem H1N1-Virus der spanischen Grippe, das bis 1957 zirkulierte. Alle Personen, die im Jahr 2009 älter als 51 Jahre alt waren, sind mit großer Wahrscheinlichkeit bereits mit dem H1N1-Virus in Kontakt gekommen, wodurch das Immungedächtnis auf die Schweinegrippe effektiv reagieren konnte.
Ein glücklicher Zufall hat uns 2009 vor einem schweren Verlauf der Pandemie gerettet.
Ein milder Verlauf war es trotzdem nicht, denn es sind dreimal mehr Kinder als in einer normalen Grippesaison gestorben und die Zahl der Todesopfer der Schweinegrippe wird auf 200.000 bis 600.000 im ersten Jahr geschätzt.
Diese unerwartet milden Folgen der Schweinegrippe-Pandemie hatte jedoch der Pandemie den ursprünglichen Schrecken genommen und die Meinung vorherrschen lassen, dass eine Pandemie ohne schwerwiegenden Verlauf bleibt. Viele Pandemiepläne waren fest an das Pandemie-Stufenkonzept der WHO geknüpft und die Aktivierung vordefinierter Maßnahmenkataloge bei Ausrufung der einzelnen Pandemie-Stufen vorgesehen. Diese feste Bindung an das Vorgehen der WHO lässt allerdings außer Acht, dass die konkreten Auswirkungen einer Epidemie oder Pandemie auf Unternehmen nicht in direkter Abhängigkeit der Entscheidungen der WHO stehen. Die Schwere einer Pandemie war zudem nie Kriterium für die Definition einer Pandemie durch die WHO, da es zu diesem Zeitpunkt am Anfang einer Pandemie keine ausreichenden Informationen gibt.
Die WHO sah sich 2009 heftiger Kritik ausgesetzt, mit Ausrufung der Pandemie “Panikmache” betrieben zu haben. Bereits vor der H1N1-Pandemie hatte die WHO begonnen, das Stufenkonzept zu überarbeiten und hat aufgrund der Erfahrungen mit der Schweinegrippe die Pandemiedefinition erneut überarbeitet.
Zudem ist die Ausrufung einer Pandemie durch die WHO ein internationales Politikum. Bereits bei früheren Pandemien gab es staatliche Einflussnahmen auf die Entscheidungen, ob und wann eine Pandemie ausgerufen wird, denn diese Entscheidung zieht den Zwang staatlichen Handelns nach sich und kann Panik in der Bevölkerung verursachen. Schuldvorwürfe an die jeweiligen Staaten kommen hinzu, in denen die Pandemie ausgebrochen ist. Durch die Finanzierung der WHO in Form von staatlichen Zuwendungen und privaten Spenden ist diese internationale Hilfsorganisation der Einflussnahme dieser Staaten ausgesetzt. Die Meldungen über Infektionsfälle und deren Übertragungswege sind freiwillig und auch hierbei kommt es zu politisch initiierten Verzögerungen von Infektionsmeldungen, die Voraussetzung für ein Agieren der WHO ist. So wurde die Mensch-zu-Mensch-Übertragung des SARS-COV2-Virus erst spät von China an die WHO gemeldet. Ein enorm wichtiges Kriterium, um die Ausbreitung des Virus einschätzen und angemessene Gegenmaßnahmen festlegen zu können.
Für den SARS-COV2 Virus wurde durch die WHO am 30. Januar 2020 die höchste Alarmstufe PHEIC (public health emergency of international concern) ausgerufen. Zu diesem Zeitpunkt gab es 98 Infektionsfälle außerhalb Chinas inklusive acht Fälle mit Mensch-zu-Mensch-Übertragung in Deutschland, Japan, Vietnam und den USA. Der erste Infektionsfall in Deutschland trat am 28. Januar 2020 bei der Firma Webasto in Bayern auf. Eine chinesische Mitarbeiterin hatte den SARS-COV2-Virus ohne ihr Wissen bei einer Schulung an die anderen Teilnehmer übertragen. Insgesamt 14 Mitarbeiter wurden in dem Unternehmen infiziert, woraufhin Webasto kurzfristig die Hauptverwaltung für zwei Wochen evakuierte, um die weitere Verbreitung zu verhindern. Am 11. Februar bekam die durch den Virus hervorgerufene Infektionskrankheit ihre Bezeichnung COVID-19. Die WHO hat bei der Namensfindung bewusst auf eine Verbindung zu Ländern, Personengruppen und Tieren verzichtet, um eine Stigmatisierung zu verhindern. Erst am 11. März wurde COVID-19 von der WHO offiziell zur Pandemie erklärt. Begründet wurde diese Entscheidung mit der schnellen Verbreitung des Virus, der schweren Folgen der Erkrankung bei gleichzeitig alarmierender fehlender Handlungsbereitschaft der Staatengemeinschaft.
Timeline COVID-19 der WHO: https://www.who.int/news-room/detail/29-06-2020-covidtimeline
Schwächen der bestehenden Pandemiepläne
Die Maßnahmen der Pandemieplanung an der offiziellen Pandemieerklärung der WHO fest zu machen ist keine gute Idee. Zu viel Zeit würde vergehen, um auf eine drohende Infektionswelle mit den angemessenen Maßnahmen reagieren zu können. Das Monitoring der internationalen Risikolage zum Beispiel in den internationalen Fachmedien ist daher unerlässlich. Für die regelmäßig jährlichen auftretenden Influenza-Pandemien wird zudem von der WHO keine Pandemie ausgerufen, auch wenn sich der Virus jährlich verändert, kein sicher wirksamer Impfstoff zur Verfügung steht und hunderttausende Menschen jährlich durch die Grippewellen auf der ganzen Welt ums Leben kommen.
Dies führt uns zu einer weiteren Schwachstelle der betrieblichen Pandemieplanungen: die Fokussierung auf Pandemien als Auslöser von möglichen Massenerkrankungen im Unternehmen.
Versicherungen rechnen mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von einer Pandemie in zehn Jahren. Die Grippewelle kommt jährlich, Norovirus-Ausbrüche, Lebensmittelunverträglichkeiten oder gar -vergiftungen können jederzeit auftreten und die Gesundheit der Mitarbeiter sowie den Geschäftsbetrieb gefährden. Die Fokussierung der Pandemieplanung auf Pandemien lässt diese anderen Gesundheitsrisiken außer Acht.
Pandemieplanung neu denken – Lösungsansätze
Statt eines Pandemieplans sollte eine Health & Safety-Planung erstellt werden, die Maßnahmen zur Früherkennung, Notfallvorsorge, Prävention und Bewältigung von Massenerkrankungen von Mitarbeitern beinhaltet.
Pandemiepläne müssen zudem flexibel aufgebaut werden, denn kein Virus gleicht dem anderen und das Reservoir an uns noch nicht bekannten Viren ist unerschöpflich. Die WHO listet daher ein “Desease X” in der Prioritätsliste der Krankheiten, die untersucht und für die Behandlungsmöglichkeiten gefunden werden müssen. Desease X steht stellvertretend für alle unbekannten Viren, die eine Epidemie oder Pandemie verursachen können.
Die Virologen gehen von dem Grundsatz “First know your enemy, then chose your weapons” aus. Die Übertragungswege, Krankheitsverläufe, gefährdete Personenkreise und Behandlungsmöglichkeiten sind immer abhängig vom jeweiligen Virus und dessen Zusammensetzung.
Die Maßnahmen zur Erkennung infizierter Personen, Unterbrechung der Infektionsketten und Behandlung der infizierten Personen sind daher abhängig vom jeweiligen Verursacher. Ein Norovirus-Ausbruch ist anders zu behandeln als eine schwere jährliche Grippewelle. Der Health & Safety Plan sollte daher die verschiedenen Szenarien betrachten und mögliche Verfahren bei Eintritt des Szenarios beinhalten. Diese Verfahren sollten mit dem betriebsärztlichen Dienst und medizinischem Fachpersonal entwickelt werden. Dazu gehört auch die frühzeitige Erkennung von erhöhten Krankmeldungen unter Einhaltung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, die Verfahren bei meldepflichtigen Krankheiten (Bsp. Norovirus) sowie die Zusammenarbeit mit Behörden bei Infektionsfällen (Bsp. Gesundheitsämter, Veterinärämter etc.).
Die relevanten Szenarien eines Health & Safety-Plans umfassen beispielsweise:
- lokale Massenerkrankungen an einem oder mehreren Standorten des Unternehmens
- lokaler Krankheitsausbruch (Bsp. Norovirus-Ausbruch)
- Lebensmittelunverträglichkeiten, – vergiftungen
- nationale / regionale Epidemien (Bsp. Influenza)
- internationale Pandemien
- Infektionsfall eines Mitarbeiters mit hochinfektiösen lebensgefährlichen Infektionskrankheiten (Bsp. Ebola, SARS, MERS, ZIKA, etc.), zum Beispiel nach einer Dienstreise im Ausland
Der Health & Safety-Plan sollte hierbei folgende Phasen beinhalten:
- Grundsätzliche Infektionsvorsorgemaßnahmen
- Bereitstellung von Hand-Desinfektionsmittel
- Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen
- Aufklärungsmaßnahmen zur Handhygiene und zu den Schutzmaßnahmen
- Monitoring von Gesundheitsrisiken innerhalb und außerhalb des Unternehmens
- Präventionsmaßnahmen
- Einlagerung von persönlicher Schutzausrüstung für Mitarbeiter
- Vorbereitung von Remote- /Home Office Arbeitsmöglichkeiten
- Erkennungsmaßnahmen
- Monitoring von Krankmeldungen
- meldepflichtige Krankheiten
- krankheitsbedingte Ausfälle von Mitarbeitern
- Bewältigungsmaßnahmen
- Aktivierung des Krisenmanagements
- Maßnahmen zur “soziale Distanzierung”
- Ausgabe persönlicher Schutzausrüstung (Bsp. Masken)Schließung öffentlicher Bereiche, Kantinen, Cafeterien etc.
- Absage von Veranstaltungen
- Information & Kommunikation
- interne Information der Mitarbeiter
- externe Kommunikation mit Kunden, Öffentlichkeit, Behörden etc., Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
- Kommunikation und Abstimmung mit Dienstleistern und Lieferanten
- De-Eskalation und Lessons learned.
Pandemien habe nicht nur Auswirkungen auf die Gesundheit der Mitarbeiter, sondern vielfältige teils massive Auswirkungen auf Geschäftsprozesse, Lieferketten und Absatzmärkte, wie die COVID-19-Pandemie aktuell aufzeigt.
Die Bewältigung dieser Auswirkungen einer Pandemie kann ein Pandemieplan alleine niemals leisten. Daher muss die Pandemieplanung mit den anderen Notfallplanungen des Business Continuity Management im Rahmen der Notfallvorsorge eng verzahnt werden. Diese decken auftretende Personalausfälle in zeitkritischen Prozessen sowie die Nichtverfügbarkeit von Gebäuden und Ausfälle kritischer IT-Systeme ab.
Die COVID-19-Pandemie hat zudem die Abhängigkeit von mittlerweile hochkomplexen internationalen Lieferketten aufgezeigt. Lieferanten konnten auf Grund von Personalausfällen kritische Teile nicht mehr liefern. Unterbrechungen der Logistikkette durch Grenzschließungen und fehlende Transportkapazitäten zum Beispiel durch Ausfall eines Großteils des Flugverkehrs führten zu Engpässen bei Warenlieferungen und nachfolgend zu Produktionsunterbrechungen. In kürzester Zeit mussten alternative Lieferanten und Transportwege für die Güter gefunden werden. Die teure Luftfracht war oft die letzte verbliebene Lösung und die Nachfrage nach Luftfrachtkapazitäten überstieg schnell das verfügbare Angebot. In den vergangenen Jahren hat sich hierfür eine eigene Disziplin, das Supply Chain Continuity Management herausgebildet. Auch diese Notfallvorsorge bildet einen wichtigen Eckpfeiler in der Pandemievorsorge und -bewältigung.
Liquidität ist einen elementaren Teil des Herz-Kreislaufsystems eines Unternehmens. Fehlende Liquidität führt zwangsläufig in die Insolvenz. Aus den Umsatzerlösen müssen Löhne, Gehälter, Mieten und Materialien bezahlt werden. Durch den Lockdown brachen vielen Unternehmen plötzlich die gesamten Erlöse aus Umsätzen weg. Die Kosten für Löhne, Gehälter und Mieten blieben aber konstant. Mittels der “Burn-Rate” konnten die betroffenen Unternehmen schnell ausrechnen, wann die Liquidität erschöpft ist und ohne staatliche Hilfen das unternehmerische Ende droht. Gut, wenn es für solche Fälle ein finanzielles Polster gibt mit einem leistungsfähigen Controlling und Liquiditätsmanagement, um das Kreislaufsystem am Leben zu erhalten. Controller wurden so in der COVID-19-Pandemie zu wichtigen Mitgliedern des Krisenstabs.
Das Krisenmanagement dient bei Eintritt einer Lage der Lagebewertung und -bewältigung mittels Führungs- und Entscheidungsverfahren sowie interner und externer Krisenkommunikation. Dem Krisenstab dienen die szenariobasierten Notfallplanungen als Grundlage für die Entscheidungen über Umsetzungen von lageabhängigen Maßnahmen. Der Health & Safety-Plan trägt seinen wesentlichen Teil zum Schutz der Gesundheit der Mitarbeiter bei.
Fazit:
Die aktuelle COVID-19-Pandemie zeigt, dass eine Planung für ein solches Szenario unerlässlich ist. Eine Health & Safety Planung sollte neben der Pandemie weitere Szenarien von Massenerkrankungen im Unternehmen berücksichtigen. Die Health & Safety Planung muss in die bestehende Notfallplanung eingebettet werden, um Unternehmen möglichst resilient auch gegen diese “weißen Schwäne” zu machen. Denn ein “schwarzer Schwan”, das heißt ein völlig unerwartetes katastrophales Ereignis ist diese Pandemie sicherlich nicht. Nassim Nicholas Taleb, der das Bild des “schwarzen Schwans” in seinem Bestseller “The Black Swan” 2007 populär gemacht hat, ist daher auch “irritiert”, wenn die aktuelle Pandemie als “schwarzer Schwan” bezeichnet wird, denn sie war absolut vorhersehbar.
Matthias Hämmerle MBCI, Geschäftsführer von haemmerle-consulting, ist ein erfahrerener und anerkannter Experte für Business Continuity und Informationssicherheitsmanagement. Seine Erfahrungen sammelte der studierte Wirtschaftswissenschaftler sowohl im Finanzsektor als auch bei Unternehmensberatungen und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Er ist Lead Auditor ISO 22301, als Dozent für den Themenberiche BCM an der Frankfurt School of Finance & Management tätig und Herausgeber der BCM-News, dem führenden deutschsprachigen Informationsportal für BCM.